Am 25. November ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen.

Gewalt gegen Frauen: Interview mit Annemarie Reiss

Am 25. November ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen.

6 Min.

Annemarie Reiss © Vanessa Hartmann

„Warum ich? Ich bin doch schon in Pension“, sagt Annemarie Reiss und verweist auf kompetente Nachfolgerinnen. Sie war immer eine Ärmelhochkremplerin, das Rampenlicht reizte sie nicht. „Diesmal möchten wir gerne bewusst eine Pionierin porträtieren“, überrede ich sie.

Am 25. November ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Das Datum markiert den Beginn der Kampagne „16 Tage gegen Gewalt“; Österreich nimmt seit mehr als drei Jahrzehnten an den weltweiten Aktionen teil. Etwa zu dieser Zeit setzte das beherzte Engagement von Annemarie Reiss und Gleichgesinnten an, als es hierzulande selbst Frauenberatungsstellen noch nicht gab.

Das Pionierinsein wurde der Vorarl­bergerin, die am 15. Mai 1955 auf die Welt kam, geradezu in die Wiege gelegt. „Mir wurde als Kind lange gesagt: Österreich hat gejubelt, als ich geboren wurde“, lacht sie. „Bis meine Geschwister mir gesagt haben, dass die Freude der Staatsvertragsunterzeichnung galt.“

Annemarie Reiss wuchs mit vier Geschwistern auf, die Eltern betrieben eine Landwirtschaft. Ihr Vater hatte in den Hof eingeheiratet, dass Frau und Mann wichtige Entscheidungen gemeinsam trafen, war für sie selbstverständlich. Bereits in den 1960er-Jahren stellten sie sukzessive den Hof auf Bio um. Eines der Kinder hatte stark allergisch auf ein Spritzmittel reagiert. Grund genug, um justament zu einem Zeitpunkt, als industrielle Pestizide als Innovation gefeiert wurden, dieser Entwicklung mutig den Rücken zu kehren.

Ihre Eltern besuchten Kurse in der Schweiz, standen drüber, wenn man sie für Spinner hielt. Heute gilt ihr Vetterhof als Vorzeigebiobetrieb. „Ich habe früh gelernt: Man muss sich nicht überall anpassen. Wenn man von etwas überzeugt ist, kann man auch neben der Spur gehen. Papas Mantra war: Es besteht immer die Chance, dass sich die Mehrheit irrt“, erinnert sich Annemarie Reiss.

Am 25. November ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen.
Oma ist eine Feministin.
Annemarie Reiss mit Enkelin Luisa © Vanessa Hartmann

Der Mama zuliebe absolvierte sie die Ausbildung zur Volksschulpädagogin und ein Unterrichtsjahr, um mit Sicherheit sagen zu können: „Das Schulsystem war nix für mich.“ Dass die gar nicht auf den Mund gefallene junge Frau ausgerechnet in der Katholischen Kirche ihren Platz fand, überrascht an ihrer Biografie. „Heute ist die Situation eine andere, aber damals herrschte Aufbruchstimmung nach dem Konzil (Zweites Vatikanisches Konzil, Anm.)“, sagt sie. Sie findet bei der Katholischen Jugend eine Anstellung mit viel Gestaltungsfreiheit. „Es war eine Hochblüte für die Jugendarbeit: Wir haben jedes Jahr rund 100 neue Gruppenleiterinnen ausgebildet.“

Wenngleich klar war, dass für Frauen in der Kirche irgendwann der Plafond erreicht ist, so sei sie ebendort – später bei der Jung­schar-Bundesstelle in Wien – trotzdem feministisch „erzogen“ worden. „Mich haben viele couragierte Frauen geprägt, die sich ihre Freiräume erkämpft haben“, sagt sie. „Parteiorganisationen waren damals viel patriarchaler, bei uns wurden die Funktionen nach dem Reißverschlussprinzip besetzt.“ Nach Wien hatte sie nicht nur die Sehnsucht nach der Stadt gelockt, sondern auch die Liebe: Sie heiratete den späteren ORF-Redakteur Walter Reiss, die beiden wurden Eltern von drei Kindern.

Das Paar richtete Omas Haus in Litzelsdorf her; ein Leben, das sie eigentlich nicht wollte, nahm seinen Anfang, verrät sie: eine Pendlerbeziehung – ihr Mann verbrachte den Großteil der Woche im Landesnorden. „Aber bald stellte sich heraus, dass gerade diese Konstellation sehr gut für mich war: Ich konnte und musste mein eigenes Leben führen, meine eigenen Freundinnen finden.“

Wenn Männer Frauen kontrollieren wollen, ist das der Boden, auf dem Gewalt wächst. Bis heute.

Annemarie Reiss, Gewaltschutzpionierin

Sie wirkt unter anderem bei einem Integrationsprojekt mit; als das zweite Kind 1988 auf die Welt kommt, arbeitet sie mit weiteren charismatischen Pionierinnen wie Elfriede Fischer am „1. Burgenländischen Frauensommer“. Die Kurslandschaft für Frauen oszillierte damals zwischen Gärtnern und Schnitzelpanieren, „wir aber luden beispielsweise eine Therapeutin ein, um zu hinterfragen: Kinder ja oder nein? Wo stehe ich in meinem Leben? Wofür ist es zu spät, zu früh oder der richtige Zeitpunkt?“

An die zehn üppig programmierte Frauensommer gingen über die Bühne; eine ehrenamtliche Projektgruppe engagierte sich parallel für die Installation der ersten Frauenberatungsstelle. „Wir wollten dafür ein Frauenbudget und haben zur Pressekonferenz geladen, das Motto: ,Der Frauenwille, ein Promille‘ – nämlich vom Landeshaushalt“, schildert sie.

Ende der 1980er trägt die Überzeugungsarbeit Früchte, die erste Frauenberatungsstelle bekommt ein Zuhause im alten Oberwarter Spital. 1992, zwei Jahre nachdem Annemarie Reiss zum dritten Mal Mutter wurde, erhält sie dort ihre erste 20-Stunden-Anstellung. „Viele haben gesagt, dass eine Frauenservicestelle am Land nie funktionieren würde. Wir glaubten fest daran.“

Das System funktionierte ein bisschen so: Sobald sie eine Chance orteten, eine Förderung für Frauenarbeit zu erhalten, handelten sie. „Es hat mich immer beschäftigt, in wie schlimmen Beziehungen viele Frauen leben. Oft kamen sie wegen finanzieller Probleme zu uns, dass sie von Gewalt betroffen waren, war für viele fast selbstverständlich. – Aber kein Mensch sollte so leben müssen“, betont Annemarie Reiss.

Am 25. November ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen.
Annemarie Reiss © Vanessa Hartmann

In den darauffolgenden Jahren intensivierten die Berater*innen die Vernetzungsarbeit etwa mit Polizei, Gerichten und Jugendämtern; ein Schwerpunkt galt dabei den Themen sexueller Missbrauch und Gewalt in der Familie. „Natürlich konnten wir nicht alles selber lösen, es war wichtig, möglichst viele ins Boot zu holen.“
1997 tritt das Gewaltschutzgesetz in Kraft: die Basis für polizeiliche Wegweisung. Häusliche Gewalt war damit kein reines Frauenthema mehr, es wurde zu einer Frage der öffentlichen Sicherheit und Betroffene trauten sich zunehmend, früher Hilfe zu holen. Zwei Jahre darauf wird die Interventionsstelle gegen Gewalt aus der Frauenberatungsstelle ausgekoppelt, Annemarie Reiss wird Leiterin.

Der Boden für Gewalt gegen frauen

Nicht ohne Grund erinnert sie sich noch an viele Paar-Beratungsgespräche; „da hörte ich Sätze wie: ,Aber Helga, du weißt doch, dass ich dich nur schlage, wenn es dir gebührt.‘“ Dass man heute verstärkt mit Gefährdern und Gewalttätern professionell arbeitet, hält sie für eine gute Entwicklung. Ebenso die Initiative StoP (stop-partnergewalt.at), die das Umfeld darauf sensibilisiert, bei ­Gewalt nicht wegzusehen. Das Patriarchat ist aber bis heute fest verankert, grübelt sie und schüttelt den Kopf über die Ergebnisse einer jüngeren Umfrage in Deutschland: „Ein Drittel der jungen Männer gab an, es sei nichts dabei, die Frau zu disziplinieren; mehr als ein Drittel möchte, dass ihre Partnerin die eigenen Ansprüche zurückstellt, um ihnen den Rücken freizuhalten. – Wenn Männer ihre Frauen kontrollieren wollen, ist das der Boden, auf dem Gewalt wächst“, bedauert die erfahrene Expertin. „Leider hat sich nicht viel verändert.“

Sie wird an der Stelle nachdenklich im Gespräch; Resignation habe sie sich nie erlaubt. Sie und ihre Kolleginnen erlebten häufig, wie Frauen ihre gewalttätigen Partner „ertrugen“. Umso schöner war es, wenn es gelang, die Klientinnen so zu bestärken, dass sie wieder in ihre Kraft kamen, selbstbewusster wurden und sich Beziehungsdynamiken ändern konnten. „Ziel war nicht, die Frauen zur Scheidung zu überreden, sondern die Beendigung der Gewaltsituation. Aber ich gebe zu: Manchmal habe ich mich gefreut, wenn Frauen sich trennen konnten. Viele sind danach aufgeblüht.“

Annemarie Reiss genießt heute die Pension, insbesondere mit den Enkeltöchtern. Luisa lernen wir nach dem Interview kennen, als sie sie vom Kindergarten abholt. Wenn Oma sie in Wien besucht, lesen die beiden gerne zusammen. Ihren feministischen Beitrag leistet Annemarie Reiss heute in der Bücherei Litzelsdorf. Dort achtet sie insbesondere auf die Auswahl der Bücher für die Jüngsten; „Geschichten mit Geschlechterstereotypen tauchen wieder stärker auf“, ärgert sie sich – und lässt immer wieder blaue Werbesticker mit Slogans wie „Für coole Jungs“ verschwinden, verrät sie. Für eine gleichberechtigte, friedlichere Zukunft.

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