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Lifestyle | 21.11.2018

Hinter verschlossenen Türen

Liebesrausch im Wandel der Zeit: Sexualität eröffnete nie so viele Möglichkeiten wie heute, allerdings stieg damit auch der Druck. Wege zu einem entspannten Umgang mit einer erregenden Materie.

Rein, raus, gute Nacht. Es ist nicht das beste Zeugnis, das der deutsche Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch dem Geschlechtsverkehr in heimischen Betten ausstellt. „Wir sind im höchsten Maße aufgeklärt, haben die Möglichkeit, Vorlieben auszuleben, die früher als krank oder pervers galten, und haben trotzdem keine Ahnung. Es ist ein Trauerspiel“, konstatierte er in einem Interview mit „Die Zeit“. Sigusch plädiert für mehr Wissen über die eigenen Sexual-organe, für politisch unkorrekte Akte statt Blümchensex und mehr Kommunikation miteinander, und zwar darüber, was erregt und was nicht.

Die sexuelle Revolution in den 1970ern und später der offene Zugang zu sexuellen (Web-)Inhalten ebnete den Weg: Wir leben heute in einer sexualisierten Welt, Porno ist enttabuisiert, man findet einfacher Gleichgesinnte, um spezielle Neigungen auszuleben, Sex ist vom Thema Fortpflanzung entkoppelt, Geschlechts- und Sexualformen haben sich vervielfältigt. Neue Freiheiten führen nicht automatisch zu einem sexuell erfüllten Leben. Vielmehr sind die Erwartungshaltungen von Männern und Frauen gestiegen.

Nicht einmal die Hälfte der Österreicher, genau genommen 47 Prozent, ist mit ihrem Sexleben zufrieden, hat die Global Sex Survey von Durex 2017 enthüllt. Im internationalen Vergleich sind die Österreicher zumindest eher experimentierfreudig. Oder behaupten es. Im globalen Durchschnitt greifen 17 Prozent zu Sex Toys, hierzulande sind es rund 32 Prozent. Wer häufiger Sex hat, ist zufriedener – zumindest mit dem Sexualleben, wie eine von Orion beauftragte Studie durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa ergab. Die Befragung unter den deutschen Nachbarn zeigte allerdings auch, dass sie häufiger masturbieren, als sie Sex haben. 20 Prozent der Männer täglich, allerdings nur ein Prozent der Frauen.

„Sexualität ist heute eine Art Heilsversprechen“, gibt Wolfgang Obendrauf, Sexualberater in der Männerberatung Graz, zu bedenken. Druck und Verunsicherung gibt es da wie dort: Auf der einen Seite steht der Mann, der „schnurrender Kater und penetrierender Tiger“ sein soll, wie es Sigusch ausdrückt. Andererseits haben wir es mit „einem falschen, nicht realitätsgetreuen Bild, das die Frau jederzeit bereit und lüstern zeigt, zu tun. Frauen bekommen vermittelt, dass sie ohne externe Reize unvermittelt Erregung verspüren sollten. Ist das nicht der Fall, mehren sich Selbstzweifel“, sagt Daniela Ulrich von der sexualmedizinischen Praxis Sexmed in Graz, „es entspricht auch gar nicht der Physiologie der weiblichen Sexualität, wie sie schon Masters und Johnson in ihrem sexuellen Reaktionszyklus beschrieben haben.“ Stress und Streit blockieren nicht nur zeitnah. Die Amygdala, ein Kerngebiet des Gehirns, ist noch länger mit der Verarbeitung negativer Emotionen beschäftigt und steht der Lustempfindung im Weg. „Um dem entgegenzusteuern, sollte man sexuellen Emotionen Platz machen, sich beispielsweise zuerst aussprechen oder mit To-do-Listen für den kommenden Tag den Kopf frei machen“, so die Sexualmedizinerin. In die Männerberatung Graz kommen immer mehr Klienten mit einer – manchmal auch nur – vermuteten erektilen Dysfunktion, „der Verdacht einer medizinisch  relevanten Ursache kann entkräftet werden, wenn die Problematik nur in der Partnersexualität, nicht aber bei der Selbstbefriedigung besteht“, so Obendrauf. „Männer fragen sich  auch: ,Stimmt etwas mit mir nicht, wenn ich keinen Superorgasmus habe?‘“ Es braucht Raum und Vetrauen, um darüber zu sprechen. Das Ideal, jederzeit potent und erregt sein zu müssen, belastet Männer. „Allgemeingültige Codes, wie Mann auf Frau zugehen sollte, existieren nicht mehr. Viele Männer fürchten, als zu soft oder zu aggressiv rüberzukommen.“

 

Sexuelle Befriedigung ist nur dann möglich, wenn beide Partner wissen, kommunizieren und tun, was sie selbst wollen. Pornografische Inhalte regen heutzutage vermehrt dazu an, Fantasien zu entwickeln, die manchmal belastend werden können. „Fast alle Menschen haben sexuelle Fantasien. Allerdings wollen sie diese nicht alle notwendigerweise leben. Die Frage ist, ob belastende Fantasien immer wiederkommen und mit Gewalt zu tun haben“, so Obendrauf. Bei ihm suchen Manager mittleren Alters mit intaktem Beziehungsleben, die nachts durch sämtliche Pornokanäle surfen und sich selbst nicht dabei wohlfühlen, Rat. Eine konstante erotische Reizüberflutung kann aber in der Tat eine kontraproduktive Wirkung haben, „sie führt zu einer langfristig höheren Reizschwelle. Sehen sich Männer häufig Pornos an, wird es für sie schwieriger, von Frauen in normalen Situationen erregt zu werden“, sagt Sexualmedizinerin Ulrich.

Die sexuelle Zukunft wird Robotersex bringen, konstatiert Sexualwissenschaftler Sigusch, und Polyamorie. Damit meint er beispielsweise ältere Paare, die sich junge Liebhaberinnen und Liebhaber nehmen. Polyamouröse Fragestellungen häufen sich auch bei Sexualberater Obendrauf. „Wir entwickeln erst im Laufe des Lebens ein sexuelles Profil“, plädiert er für den verstärkten Einsatz von Experten der Sexualpädagogik in der Schule, „wir bieten auch Informationen, wie Pornografie im Unterricht thematisiert werden kann.“

Um Lust an der Lust zu empfinden, gilt: „Je besser eine Beziehung funktioniert, desto besser funktioniert die Kommunikation auf dieser Ebene. Paare müssen eine gemeinsame Sprache, ein Vokabular für die gelebte Sexualität finden“, betont Sexualmedizinerin Ulrich. Sex darf man sich ruhig als Termin vornehmen.