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Lifestyle | 21.03.2022

Raus mit uns!

Wir sind passiver geworden während der Pandemie und lassen uns gern berieseln. Das macht uns unglaubwürdig, wenn wir den Kids sagen: „Handy weg!“ Wie wir da wieder raus- und zurückfinden.

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© Shutterstock

Beginnen wir mit dem Status quo: Die Kids, die direkten Zugang zum Massenmedium Internet haben, werden immer jünger. Es bietet viele Möglichkeiten, das ist zunächst einmal weder gut noch schlecht, findet der Kinder- und Jugendanwalt Christian Reumann, „solange sie einen kritischen Umgang lernen und sie auch außerhalb der virtuellen Welt ihre Erfahrungen machen“. Als Corona kam, wurden diese wichtigen Grundsätze ad absurdum geführt; der Unterricht fand plötzlich via Internet statt. Die Schule, die sonst zumindest einen partiellen Konterpart bot, mutierte zum Pusher der virtuellen Welt. Aus „Sitzt nicht so viel vorm Computer!“ wurde „Setzt euch zum Kastl!“. Dass die Kids dort nicht nur lernen, sondern auch den angenehmen Effekt wollen, beispielsweise Spiele und soziale Medien, liegt auf der Hand. „Es ist schwer zu transportieren, dass sie vorsichtig sein sollen, weil das Internet Gefahren birgt, wenn man sie gleichzeitig animiert, dass sie ihre Aufgaben dort machen sollen. Das sind Doppelbotschaften, die gerade Jüngere kaum auseinanderklauben können. Man kann nicht sagen: guter Computer, böser Computer, gutes Internet, böses Internet“, erklärt der Psychologe. Gleichzeitig stellte man auch fest, dass vor allem viele Jüngere schon vom „Kastl“ wegwollten. „Weil all das Überforderung und Stress bedeutet“, sagt Reumann.

 



BURGENLÄNDERIN: Wie erleben Sie die Kids aktuell?

Christian Reumann: Kinder und Jugendliche waren (und sind) der „Ende-­nie-Geschichte“ aus Lockdowns und Maßnahmen ausgeliefert, parallel fehlten ihnen die Möglichkeiten, reale positive Lebenserfahrungen zu machen wie beim Fußballspielen oder bei einer anderen persönlichen Interaktion. Diese sind essenziell, weil sie das Empfinden unterstreichen, etwas in der Welt bewirken zu können. Wenn Bewegungsradius und -möglichkeiten das nicht zulassen, trägt das zur Hilflosigkeit bei. Am Ende kann das zu Angststörungen, Depression, Aggression führen, das sehen wir gerade ganz klar. Schule wirkt in hohem Maß ausgleichend. Dort hat jeder seinen Platz, alle haben weitgehend die gleichen Bedingungen, den Lehrer*innen zuzuhören. Das war zuletzt häufig nicht so; wer einen Zugang, einen eigenen Computer hatte, war klar im Vorteil.

… und nutzte diesen auch über die schulischen Tätigkeiten hinaus.

Was macht man, wenn man daheimsitzen muss? Man konsumiert. Spiele, Streamen, Social Media wurden zum Ventil – und das ist logisch: Dauerstress begünstigt eher konsumierendes anstatt konstruktiv gestaltendes Verhalten. Wenn Erwachsene abends den Kopf voll haben und erschöpft sind, setzen sich die wenigsten hin, um ein Gedicht zu verfassen, da lässt man sich gerne berieseln. Man taucht vorm Fernseher und Computer in eine Scheinwelt ein, das ist gerade für Kids ein großes Thema.


Welche Kinder sind eher gefährdet, ein Suchtverhalten zu entwickeln?

Sucht entsteht nicht von heute auf morgen, dem geht missbräuchliches Verhalten voraus. Das besteht zum einen daraus, dass man sich exzessiv in die Computer-, Internet- und Social-­Media-Welt stürzt, zum anderen da­raus, dass man das nicht mehr tut, um es zu genießen, sondern um der Realität zu entfliehen. Davon sind nicht alle gleich bedroht, aber in Phasen wie zuletzt, wenn Internet und Co. fast die einzigen Möglichkeiten boten, sich zu entspannen, war die Gefahr groß.

 


Wie wirkt man hier entgegen?

Indem man junge Leute dazu bringt, außerhalb der virtuellen Welt was zu gestalten. Mein Appell an die Politik: möglichst schnell einen Rahmen und Möglichkeiten zu schaffen, damit Kinder und Jugendliche wieder analoge positive Erlebnisse haben können. Es wurde zu lange übersehen und nicht entsprechend gewichtet, was die Situation mit ihnen macht. Eine alarmierende Facette: der Anstieg von Suizidversuchen bei Kindern.


Wie können Eltern aktiv werden? Ich erwische mich oft selbst dabei, dass ich sage: „Geht raus spielen!“ – das reicht vermutlich nicht …

Nein, gerade bei jüngeren Kindern nicht und es haben auch nicht alle einen Garten. Besser: „WIR machen etwas gemeinsam.“ Das ist etwa für eine Alleinerziehende eine enorme Anstrengung – darum auch mein Appell an die Politik –, aber es bewirkt viel, wenn man ab und zu den Haushalt aufschiebt, um mit den Kids was im Freien zu unternehmen. Man stößt womöglich auf Widerstände, wir alle sind passiver geworden, körperliche Aktivität muss wieder forciert werden. Bei Jugendlichen ist es wichtig, sie möglichst rauszulassen, draußen ist die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung gering. Die Gefahr der Passivierung, der Vereinsamung und der da­raus resultierenden Folgen ist größer.


Mehr reale, weniger virtuelle Welt ist also der Schlüssel?

Ja, aber es braucht ein bewusstes Aktivieren und Reaktivieren. Fakt ist: Der Nachteil beim Konsumieren ist, dass echte Erfolgserlebnisse ausbleiben. Die brauchen wir aber alle – und manchmal auch jemanden, der uns mitreißt.

 

"Man muss Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, außerhalb der virtuellen Welt etwas zu gestalten und zu erleben.", Christian Reumann, Kinder- und Jugenanwalt

 

Fotos: Shutterstock, beigestellt