„Es macht ja nur die Welt größer

18 Begegnungen mit Eltern queerer Kinder: Lisa Bolyos und Carolina Frank legen ein Buch vor, das unser aller Leben zu bereichern vermag. Ein wichtiger Gedanke daraus: Unsicherheit und Stolpern können wertvoll sein.

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Nicht nur die Kinder haben ein Coming-out, sondern auch die Eltern“, sagt die Fotografin Carolina Frank. „Am Stammtisch die Fotos von der Hochzeit des schwulen Sohnes herzuzeigen, ist schon noch mal was anderes.“

Eltern queerer Kinder erzählen selten, fand die Journalistin und Autorin Lisa Bolyos heraus, als sie mit der Recherche nach entsprechenden Erfahrungsberichten ziemlich bald fertig war.

Zum Nachdenken über die Elternperspektive hatte die beiden 2017 eine Reise nach Kiew gebracht; sie arbeiteten an einer Geschichte über die dortige LGBTIQ-Bewegung (internationale Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer). Die Elterninitiative TERGO und die Stärke, mit der ihre Mitglieder hinter ihren Kindern stehen, beeindruckte sie.

Wie ist das in Österreich, fragten sich die beiden. Drei Jahre lang suchten die Nikitscherin Lisa Bolyos und die Wienerin Carolina Frank nach Antworten und fanden viele unterstützende, empowernde Geschichten, die unser aller Horizont erweitern. Ihr Buch „Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht“ (Achse Verlag) erzählt in Texten und Bildern von Menschen, denen es früher oder später gelang, sich von „klassischen“ Familienmodellen zu verabschieden und die Welt bunter und vielfältiger zu verstehen.

Mit Neugier und Feingefühl. Fotografin Carolina Frank und Augustin-Redakteurin Lisa Bolyos arbeiten immer wieder gemeinsam an journalistischen und künstlerischen Projekten. © Michael Bigus

„Man muss keinen besonderen Bildungsweg haben, keiner besonderen Klasse angehören und auch nicht schon alles vorher gekannt und gewusst haben, man kann aus vielen Ressourcen schöpfen, um die Kinder zu unterstützen, um Homosexualität oder Queerness entweder gar nicht als Problem zu begreifen oder die Perspektive des Problems zu überwinden. Dafür gibt es verschiedene Wege, ein paar haben wir versucht abzubilden“, sagt Lisa Bolyos.

„Es klingt ein bisschen kitschig, aber man muss sagen: Die Liebe ist auf diesen Wegen schon hilfreich“, fügt Carolina Frank hinzu. 

Kann man mit Liebe alles überwinden?

Lisa Bolyos: Wenn man Liebe als Wertschätzung interpretiert: fast alles. Eine relevante Frage ist: Warum empfindet man etwas als Problem? Aufgrund der Rechtslage? Wenn wir von Uganda oder Russland reden, wo Homo- oder Transsexuelle nicht akzeptiert oder strafrechtlich verfolgt werden, stellt sich die Aufgabe, wie ich als Elternteil trotz meiner Ängste mein Kind unterstützen kann. In Österreich müssen diese Ängste nicht sein.

Carolina Frank: Wir haben im Buch nur Geschichten versammelt, die gut ausgingen – und in denen für das Gelingen gearbeitet wurde oder nicht gearbeitet werden musste. Hier stand die Beziehung zum Kind immer im Vordergrund.

Wie habt ihr die Gespräche erlebt?

Lisa: Die Interviewpartner*innen haben sich in einer Art und Weise geöffnet, dass ich begeistert darüber war, wie mutig sie sind. Wie sehr sie zu ihren Geschichten stehen, zu ihren Kindern sowieso, aber auch zu ihren eigenen Inkompetenzen (einige beschreiben, was sie aus heutiger Sicht anders gemacht hätten, Anm.). Ein sehr emotionaler Moment war, als ich einer Mutter ihren Text zur Freigabe gab und sie daraufhin sagte: „Wie konnte ich so zu meinem Kind sein? – Aber es stimmt alles, du kannst es so lassen.“ 

Ihr beschreibt und zeigt 18 Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Generationen in ganz Österreich. Was entgegnet ihr, wenn ihr heute hört: „Das ist nur eine Phase“?

Lisa: Die Frage ist, warum jemand das sagt. Um generell Gender- und sexuelle Identitäten infrage zu stellen, die von Heteronormativität abweichen? Dann würde ich sagen: Nein, das muss keine Phase sein. Für manche Leute ist das Infragestellen des Geschlechts so schlimm, weil damit eine der „letzten gesellschaftlichen Festungen“ abgerissen wird. Die Jugend ist aber dazu da, Festungen abzureißen. Ob ein Mensch dann dabei bleibt, dass er schwul, trans-ident oder queer ist, oder es tatsächlich nur eine Phase ist, finde ich gar nicht so relevant. Man sollte sich aber sehr wohl gemeinsam mit dem Kind seinen Themen widmen, wenn man das Gefühl hat, dass es Unterstützung braucht oder Dinge anstehen, die nur Erwachsene mit ihm entscheiden können.

Carolina: Vielleicht kann man auch zurückfragen: Wenn man sich nun mit 25 als heterosexuelle Frau in eine andere Frau verliebt: Ist dann die Heterosexualität „nur eine Phase“ gewesen?

Was wünscht ihr euch fürs Buch?

Carolina: Dass es als Inspiration und Basis dient, um Gespräche zu eröffnen.

Lisa: Es ist wie ein kleines „First Aid“, auch für Situationen, in denen es gar nicht so weit ist. Das Buch kann auch helfen, wenn du Lehrer*in oder Gewerkschafter*in bist; man weiß nie, wer es brauchen kann. Besonders schön sind die Begegnungen mit dem Publikum bei unseren Lesungen, wenn wir weitere Geschichten hören, die gut hineingepasst hätten, oder uns Menschen erzählen, wie das Buch ihnen geholfen hat. Das ist das größte Lob.

Einblicke: Familien aus dem Buch 

Wo stehen wir in Österreich?

Carolina: Vom Gefühl her würde ich sagen, dass es zwei Richtungen gibt: eine, wo es leichter und diverser wird, und die andere, wo es wieder einen Rückschritt gibt.

Lisa: Ich habe auch den Eindruck, dass es mehr ein Thema für Rechte und damit für Angriffe geworden ist und dass da eine neue Notwendigkeit ist, gut dagegenzuhalten und das Recht auf ein unversehrtes Leben mit Entwicklungspotenzial zu verteidigen.

Umgekehrt war ich mal bei der Barbara-Karlich-Show eingeladen und da saß eine ganze Runde von Leuten verschiedenen Alters, die auf verschiedene Arten ihr Coming-out hatten. Das war ein empathischer Raum und es war klar, wenn das ausgestrahlt wird, kommen da keine Hassbotschaften, sondern es freut die Leute. Ich habe den Eindruck, dass sich da ganz schön was tut.

… umso trauriger, wenn es eine Demo gibt, weil eine Drag-Queen eine Lesung für Kinder macht (im April demonstrierten Rechtsextreme vor der Türkis-Rosa-Lila-Villa in Wien).

Lisa: Ja, aber umgekehrt gab es eine solche Lesung vor 15 Jahren nicht – und es gibt mittlerweile genug Gruppen, die eine Gegendemo machen.

Was braucht es, um sich den eigenen Tabus zu stellen? Müssen wir das?

Lisa: Ich sage nicht: Alle Scham gehört aufgebrochen; sie bietet einen relevanten Selbstschutz. Wenn ich nun aber wegschaue, weil ich mit etwas nicht umgehen kann und deswegen nicht will, dass es das gibt, dann gehört das Tabu aufgebrochen.

Unsere Kinder, die nächste Generation, werden mit neuen Dingen kommen, die man nicht einordnen kann. Es geht um die Frage: Halten Erwachsene aus, dass sie keine Antworten haben und vielleicht das Kind mal Expert*in ist? Man muss nicht schon alles wissen. Und man sollte nicht peinlich berührt sein und sagen: Das gibt’s nicht, ich will das nicht den Großeltern erklären müssen oder auf der Straße komisch angeschaut werden. Ich kann aber sagen: Ah wirklich? Eine Neuigkeit! Erzähl mal! – Dass die Welt voller Überraschungen ist und dass das in Ordnung so ist, wird einer ziemlich abtrainiert. Ich finde aber, stolpern kann eine ganz schön weiterbringen.

Carolina: Mit etwas konfrontiert zu werden, das ich bis dahin nicht gekannt habe oder als nicht relevant erlebt habe, ist im Prinzip eine Chance. Es macht ja nur meine Welt größer.

© Michael Bigus

Was ist die größte Sorge der Erwachsenen, wenn die Kinder „anders“ sind, also abseits des Mainstreams?

Lisa: … oder anders, als es sich die Eltern vorgestellt haben. Unser Interviewpartner Robert Leitner bringt es schön auf den Punkt: „Das Kind selbst schämt sich nicht für sein Schwulsein. Aber die Eltern schämen sich, wenn sie auf der Straße spazieren gehen mit dem Sohn und seinem Partner oder mit der Tochter und ihrer Partnerin. Wegen dem Gerede! (…) Aber so viel Selbst-bewusstsein muss man halt haben, zu sehen: Das ist nicht mein Problem.“

Viele Eltern sagen, sie hätten sich gesorgt, dass sie dann keine Enkelkinder bekommen. Aber das halte ich ein bisserl für eine Ausrede. Das ist nicht böse gemeint, aber die Frage stellt sich auch für Hetero-Paare und Singles. 

Carolina: Eine große Angst ist es, nicht akzeptiert zu werden.

Lisa: Und dann gibt es auch Ängste vor Gewalt, der Kinder auf der Straße oder in der Familie ausgesetzt sein können.

Carolina: … oder dass die Kinder ein unglückliches Leben haben und nicht entsprechend in der Familie aufgehoben sind. Aber auch im Bezug darauf kann ich die Welt größer machen: Unterstützende Communitys können eine große Bereicherung sein, sie können sogar zu einer fast noch größeren Aufgehobenheit führen.

Wie hat euch die Arbeit am Buch geprägt, vielleicht sogar verändert?

Carolina: Ich fand die Bereitschaft der Menschen, sich zu öffnen, sehr berührend; wir konnten erfahren, dass es gar nicht viel braucht, um eine große Nähe entstehen zu lassen.

Lisa: Vor dem Buchprojekt bin ich Mutter geworden; das war ein hilfreicher Ritt durch die Elternschaft (lacht). Es war eine richtige Schulung für mich. Was heißt Liebe zu einem Kind? – Das heißt sich herausfordern lassen.

© Carolina Frank

Lisa Bolyos, Carolina Frank:

„Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht. Gespräche mit Eltern queerer Kinder“

(Achse Verlag)

Carolina und Lisa kommen gerne auf Anfrage zu Lesungen.

Infos: gespraechemitelternqueererkinder.weebly.com

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