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Schwere Last: Warum Schlanksein ein Privileg ist

Man muss nicht schlank sein, um ein gesundes Leben zu führen. Warum Abnehmen nichts mit Disziplin zu tun hat und Gewichtsstigmatisierung fatale Folgen haben kann.

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„Wenn ich erst einmal abgenommen habe, wird alles besser sein. Dann bin ich begehrenswerter, selbstbewusster, wertvoller.“ So oder ähnlich lauten Affirmationen, die sich die meisten dicken Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal vorsagen.

Und diese kommen nicht von ungefähr, denn gerade mehrgewichtige Frauen werden in unserer Gesellschaft immer noch strukturell diskriminiert und regelmäßig beleidigt – sei es von Verwandten, Bekannten oder Online-Kommentator:innen: „Iss doch weniger, beweg dich doch einfach ein bisschen mehr, sei nicht so faul.“

Lückenhafte Maßstäbe.

Oft werden diese Äußerungen mit einer vermeintlichen Sorge um die Gesundheit der Betroffenen argumentiert. Andere zu einem gesünderen Lebensstil motivieren zu wollen, ist ja grundsätzlich eine ehrbare Sache. Das Problem bei gewichtsbezogenen Kommentaren ist allerdings: Sie reproduzieren Klischees, Stereotype und implizieren, die angesprochene Person habe etwas falsch gemacht.

Deshalb sprechen wir hier auch von mehrgewichtigen statt von übergewichtigen Personen – die Grenze, wo dieses „zu viel“ an Gewicht genau beginnt, ist nämlich keine objektive, sondern eine willkürlich festgelegte.

Berechnungen, die Körpermaße mit einer Norm abgleichen, sind de facto wenig aussagekräftig: Der Body-Mass-Index (BMI) etwa berechnet nur das Verhältnis zwischen Körpergröße und Gewicht, ignoriert allerdings die individuelle Körperzusammensetzung; etwa den Anteil von Muskeln und Fett. Jemand, der viel trainiert und entsprechend viel Muskelmasse hat, könnte gemäß BMI also ebenso übergewichtig sein wie jemand mit einem hohen Körperfettanteil.

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Universeller Übeltäter.

Gewichtsbezogene Stereotype sind für Betroffene nicht nur belastend, sondern können auch dramatische Folgen haben. So sehen viele Mediziner:innen das Mehrgewicht als universelle Beschwerdeursache; ganz gleich, ob es sich um hohen Blutdruck, Knieprobleme oder Bauchschmerzen handelt.

Wer medizinische Hilfe sucht, wird nicht selten mit dem saloppen Ratschlag abgespeist, man sollte doch erst einmal abnehmen. Mehrgewichtige Personen werden in der Regel kürzer behandelt und bekommen öfter falsche Diagnosen – was dazu führen kann, dass sie Arztbesuche überhaupt nicht mehr wahrnehmen, weil sie sich für ihr Gewicht schämen.

Gewichtsstigmatisierung kann aber auch negative Folgen auf psychosozialer Ebene haben, denn sie steigert das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen oder Angstzustände.

Innsbrucker Diätologin und Sportwissenschaftlerin Evelyn Prinster

Ganzheitliche Sichtweise.

Der Body-Positivity-Bewegung wird oft vorgeworfen, sie würde Mehrgewicht und damit einen vermeintlich ungesunden Lebensstil glorifizieren – dabei ist es ein Mythos, dass mehrgewichtige Menschen automatisch immer ungesünder sind als schlanke.

Das Gewicht alleine sagt nichts über die Gesundheit einer Person aus.

Evelyn Prinster

„Ich kann mehrgewichtig sein und meine Stoffwechselparameter können sich trotzdem im gesunden Bereich befinden. Ich kann schlank sein und trotzdem einen ungesunden Lebensstil pflegen. Auch die extreme Beschäftigung mit gesunder Ernährung und das zwanghafte Vermeiden ‚ungesunder‘ Lebensmittel kann krankhafte Ausmaße annehmen; man spricht hier auch von Orthorexie.“

Um den allgemeinen Gesundheitszustand einer Person beurteilen zu können, müssten jedenfalls weitere Parameter mit einfließen. Dazu zählen beispielsweise Alter, Hormone, Medikamente, Stress, Schlafqualität und genetische Vorbelastung, aber nicht zuletzt auch die psychische Gesundheit.

Es bräuchte dringend eine ganzheitliche Herangehensweise, die neben dem körperlichen Zustand auch den seelischen miteinschließt.

Evelyn Prinster

Mit der Anerkennung all dieser Faktoren würde im Übrigen auch der Vorwurf entkräftet: Wer nicht abnimmt, sei einfach nicht diszipliniert genug.

Negative Körperbilder überwinden.

In ihrer täglichen Arbeit begleitet Evelyn Prinster Menschen auf dem Weg zu einer gesunden, gewichtsneutralen Ernährung. Wichtig ist ihr dabei, einen möglichst wertfreien Zugang zum eigenen Körper zu vermitteln und den Fokus, so gut es geht, vom Aussehen wegzulenken.

„Sehr häufig mache ich die Erfahrung, dass es den Leuten hilft, wenn ich ihnen zeige, welche wertvollen Zutaten sie zu ihrem Essen hinzufügen können und so die Denkweise zu durchbrechen ‚Auf welche Dinge muss ich noch verzichten, was sollte ich weglassen?‘ “, erklärt Evelyn Prinster.

In der Therapie gehe es unter anderem darum, Gewohnheiten zu hinterfragen, mehr Achtsamkeit und Freude beim Essen zu entwickeln sowie Hunger und Sättigung wieder spüren zu lernen. „Manchmal kann zusätzlich zur Ernährungstherapie auch eine begleitende Psychotherapie sinnvoll sein, um an dem eigenen, oft negativen Körperbild zu arbeiten.“

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Keine Diäten.

Von Diäten rät die Expertin dringend ab, da diese das negative Körperbild nicht heilen, sondern vielmehr Weight Cycling (= Gewichtsschwankungen) begünstigen würden – und diese wiederum seien ein vom Körpergewicht unabhängiger Risikofaktor für beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Eine sehr restriktive Ernährungsweise könne außerdem eine Unterversorgung mit Makro- oder Mikronährstoffen zur Folge haben, ganz zu schweigen von Nebenerscheinungen wie Muskelabbau, Stimmungsschwankungen oder Müdigkeit.

Im Extremfall können Diäten und Fastenkuren außerdem die Entwicklung von Essstörungen begünstigen. Dass gerade auf Instagram und Co immer wieder einseitige, pseudowissenschaftliche Ernährungsempfehlungen und Falschinformationen von Influencer:innen kursieren, sei ein massives Problem.

Wer fast überall Kleidung in seiner Größe findet und in Öffis bequem sitzen kann, profitiert vom „Skinny Privilege“.

Schlanksein ist ein Privileg.

Die meisten schlanken Menschen sind sich der Bevorzugungen, die sie gegenüber dicken Menschen im Alltag erfahren, nicht bewusst. Und obwohl auch dünne Menschen zweifelsohne mit ihren Körpern unglücklich sein und Diskriminierung erfahren können, geht unsere Gesellschaft von einer Normschlankheit aus – und von dieser profitiert automatisch jede:r, der:die in dieses Spektrum fällt. Man spricht hier auch von „Skinny Privilege“.

Wenn Sie in fast jedem Geschäft Kleidungsstücke in Ihrer Größe finden, in Bus und Flugzeug neben Ihren Sitznachbar:innen bequem sitzen und in der Öffentlichkeit einen Burger essen können, ohne unangenehme Blicke zu ernten, dann fallen vermutlich auch Sie in diese Kategorie.

„Ich würde mir wünschen, dass wir alle mehr Bewusstsein für diese verinnerlichte Fettfeindlichkeit entwickeln, die sich leider durch viele Bereiche unseres Alltags zieht“, meint Evelyn Prinster. Ein möglicher Anfang: Nehmen wir uns doch anlässlich der wärmeren Jahreszeit vor, das Aussehen anderer weniger zu kommentieren. Und den Körper einfach Körper sein zu lassen.

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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:

Stellvertretende Chefredakteurin und Redakteurin für Style, Beauty und Gesundheit der TIROLERIN, Andrea Lichtfuss
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Andrea Lichtfuss ist Stv. Chefredakteurin der TIROLERIN und für die Ressorts Beauty, Style und Gesundheit zuständig. Sie mag Parfums, Dackel und Fantasyromane. In ihrer Freizeit findet man sie vor der X-Box, beim Pub-Quiz oder im Drogeriemarkt.

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